Zum Inhalt

Seminar der „Besonderen Familie“ im April in Hagen - Eine Reise nach Holland

Das mit dem linken Ohr unserer großen Tochter etwas nicht ganz der „Norm“ entsprach, wussten wir bereits nach dem ersten Hörscreening im Krankenhaus. Dort wurde es aber noch von allen Seiten als unbedenklich abgetan. - Schließlich konnte es auch genauso gut Fruchtwasser sein, welches noch nicht abgeflossen war. Dennoch wurde uns geraten, es tiefgehend untersuchen zu lassen. Am Ende einer, dem Leser wahrscheinlich nicht unbekannten Odyssee, stand dann die Diagnose: „an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit links.“

Foto

© Britta Dietzschold

Ein CI muss her, am besten gestern, so die beratenden Ärzte. Wir waren geschockt und wussten nicht, was wir tun sollten. Ein Gefühl, das uns bis dahin meistens unbekannt war! Das Josephine auf dem linken Ohr auch mit Hörgerät nicht so gut hört wie rechts, haben wir schnell gemerkt. – Aber, dass ein operativer Eingriff gemacht werden soll, der unser Kind sein ganzes weiteres Leben begleiten würde, das kam unerwartet. Wir waren mit der Situation schlichtweg überfordert. Meine Lebensgefährtin sollte beim zweiten Termin, ohne meine Anwesenheit, entscheiden, ob ein CI von der Firma Cochlear oder MEDEL genommen werden soll. Eine Beratung dürfe laut Klinik nicht stattfinden. Aber beide Modelle seien gleich gut und wir sollten uns keine Sorgen machen, denn eine falsche Wahl gäbe es nicht.

Durch unsere Frühförderung haben wir von den CI-Kids erfahren und dann ging alles ganz schnell. Jennifer, meine Lebensgefährtin, hatte mit Marion Hölterhoff (1. Vorsitzende des CIV-NRW e.V.) gesprochen und mir von einem herzlichen Telefonat berichtet. Sie empfahl uns das vom Cochlea Implantat Verband NRW veranstaltete Eltern-Kind Seminar. Es sollte uns eine Orientierung geben in einer Welt, von der wir aufgrund der linksseitigen Hörschädigung unserer Tochter Josephine (4) bis an unser Lebensende ein Teil sein werden.

Das Seminar fand am Freitag, dem 05.04.24 ab 18 Uhr statt. - Wir standen in Hagen auf dem Parkplatz der Jugendherberge und übergaben den Großeltern unsere jüngere Tochter Cara. Schließlich wollten wir uns voll und ganz auf das vor uns liegende Seminar konzentrieren, um so viel wie möglich mitzunehmen. Das Abendessen hatte schon angefangen, wir waren die letzten von fünf Familien. Wir wurden aber nicht weniger herzlich von Marion und den anderen Eltern empfangen. Es lag eine Atmosphäre in der Luft, die so für mich unbekannt war. Keiner fühlte sich verpflichtet anwesend zu sein. - Alle nahmen aber an dem Seminar teil, weil sie mehr über die Einschränkung erfahren wollten, die unsere Kinder und uns letztendlich miteinander verbindet. Es wurden sechs Kinder mitgebracht von denen vier eine Hörbeeinträchtigung haben, die sich aber alle voneinander unterscheiden: ein Kind mit beidseitig implantierten CIs, ein Kind im Alter unserer Tochter, die einen Tag vor der Ersteinstellung ihres CIs stand, unsere Tochter, die auf einer Seite beeinträchtigt und auf der anderen Seite hörend ist und ein Kind, bei dem noch gar nicht feststeht, ob es überhaupt ein CI erhalten muss. Es war eine tolle, bunte Gruppe, denn keiner ist anders und keiner wurde ausgeschlossen.

Foto

© Britta Dietzschold

Schon am ersten Abend fand eine Vorstellungsrunde statt, in der alle Eltern und auch Marion, selbst CI-Trägerin, noch einmal den bisher erlebten Weg (leider zu häufig auch Leidensweg) mit ihrem Kind erläuterten. Leidensweg nicht, weil unsere Kinder eine Beeinträchtigung haben, sondern weil es auch in 2024 nach wie vor schwer ist, einfach und unkompliziert Unterstützung zu erhalten, wenn sie gebraucht wird. Alle berichteten, dass seit der Diagnose ein Kampf aufgenommen werden musste, was verständlicherweise betroffen macht. Wir beschließen, den Abend als Familien früh ausklingen zu lassen, um am Samstag mit vollem Tatendrang dabei zu sein.

Die beiden Dozenten heißen Dr. Karen Jahn und Peter Dieler, die ebenfalls geduzt werden möchten. Beide sind selbst hörgeschädigt, aber auf vollkommen unterschiedliche Art und Weise. Etwas, was ich erst verstehen muss ist, dass das Krankheitsbild so unterschiedlich und einzigartig wie der Mensch dahinter ist. Etwas, dass man sich als Hörender nicht immer bewusst macht, schließlich ist „taub“ taub, oder? Was wieder auffiel ist die direkt von Beginn an offene und herzliche Atmosphäre. Peter und Karen sprachen über ihre Beeinträchtigung ohne Selbstmitleid, Angst oder Scham. Etwas das schwierig, aber so enorm wichtig ist!

Der Austausch fand bei allen ohne Hemmnisse statt, weil alle mit ihren Kindern mitfühlen und sie nicht auf die Beeinträchtigung reduzieren wollen, was einem die Gesellschaft aber nicht immer leichtmacht. Eine befreiende Atmosphäre, wenn man sich nicht, auch für die eigenen Ängste, rechtfertigen muss, weil jeder im Raum seine eigene und häufig auch gemeinsame Angst hat.

Das wurde auch bei der ersten „Übung“ deutlich, in der wir Erwartungen an das Seminar formulieren sollen. Es sind gar keine spezifischen Fragen, auf die es eine einfache Antwort gibt, sondern ein „wie geht es weiter“, „was, wenn ich etwas falsch mache“ oder auch „ich möchte einfach andere Betroffene kennenlernen“.

Das Seminar ist Hilfe und Selbsthilfe zugleich! Man spürt, wie die betroffenen Eltern nach und nach freier reden und je besser sie sich kennenlernen, immer mehr Gemeinsamkeiten feststellen. Dass scheint für andere vielleicht banal, ist aber unfassbar wichtig im Zusammenleben mit einem beeinträchtigten Kind. Ich möchte in diesem Bericht gar nicht auf jede einzelne Übung eingehen, denn die „Antworten“ von uns Eltern überschnitten sich in vielen Fällen.

Für mich und meine Lebensgefährtin war dieses Seminar eine Erfahrung, die darüber hinaus ging etwas zu lernen. Es war zumindest für mich ein Ankommen in einer Welt, die ich immer ein Stück von mir weggeschoben hatte. Meine Tochter ist doch „normal“, sie hört doch, wenn auch etwas schlechter als andere Kinder, wir brauchen uns nicht verrückt zu machen. Aber gerade diese Herangehensweise ist auch sehr belastend und ich merkte, wie ich im Laufe des Wochenendes immer mehr Ballast abwerfen konnte, der die Seele, ob man will oder nicht, belastet. Und das merkte man auch bei allen anderen Teilnehmern. Höhepunkt war eine Geschichte, die uns Karen vorlas.

Die Geschichte „Willkommen in Holland“ ließ bei vielen Teilnehmern die Tränen in die Augen steigen. – Denn jeder leidet mit seinem Kind, das von allen Teilnehmern so sehr geliebt wird. Gerade der Dozent Peter Dieler hat uns mit seinen Geschichten mitten aus dem Leben und mit seinem großen Erfahrungsschatz immer wieder fasziniert und konnte uns in vielen Fragen konkret helfen. Als Peter uns eine Geschichte erzählte von einem Mädchen, deren Stiefvater sie immer als „Fehler“ beschimpfte, wusste man gar nicht, ob man heulen oder total wütend sein sollte. Es herrschte absolute Fassungslosigkeit, wie erwachsene Menschen mit Kindern mit Beeinträchtigung umgehen.

Nun habe ich viel von Gefühlen erzählt und wenig vom Seminar. Wir hatten so viele schöne Momente, haben viel gelacht, (Peters Handschrift hat etwas Eigenes und sein G erinnert an hebräische Schriftzeichen - aber seine Zeichnungen sind exquisit). Wir haben gemeinsam geweint, aber vor allem haben wir uns anderen Menschen gegenüber so gezeigt wie wir sind, ganz ohne Verteidigungsstellung und Masken, weil jeder einzelne versteht, wie es dem anderen geht. Wir haben schon jetzt beschlossen, an einem weiteren Seminar im Oktober teilzunehmen, genau wie alle anderen Familien auch und ich glaube, das sagt alles über die überragende Qualität des Seminars aus.

Auch Britta, Teil des Orga-Teams der CI-Kids, die leider krankheitsbedingt ohne Familie teilnehmen musste, hat uns viele Anregungen, und das Gefühl gegeben, jederzeit willkommen zu sein. Vielen Dank dafür!

Marion, Peter und Karen, wir können euch nicht genug danken, dass ihr uns helft unsere Kinder so sein zu lassen, wie und was sie sind: Kinder.

Hinweise:

Autor: Victor Zaunick

Bilder:

  • Britta Dietzschold

Dieser Artikel ist ebenfalls in der "CIV-NEWS" Printausgabe erschienen.